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Harry, der Kettenhund | Kurzgeschichte

Harry, der Kettenhund

 

Sommer 1958, die Schulferien haben gerade begonnen.
Mein Bruder und ich standen mit Pappkoffer und Rucksack am Bahnsteig in Leoben und beobachteten den gerade einfahrenden Zug, der uns nach Hausmannstätten in die Untersteiermark bringen soll. Schon beim Einsteigen hatte ich Tränen in den Augen.
Unser Vater reichte uns den Koffer nach und wir fanden im Abteil sogar einen Fensterplatz. Ein Pfiff ertönte und der Zug setzte sich schnaubend und qualmend in Bewegung. Wir winkten so lange am offenen Fenster, bis wir unsere Eltern nicht mehr sehen konnten.
Es ging in Richtung Süden. Unser Ziel war die Landeshauptstadt Graz, da sollten wir vom Onkel Michl und Tante Martha abgeholt werden. Seitdem wir zur "Erholung" auf der Laßnitzhöhe waren, hatte ich eine Abneigung zur Untersteiermark.
Die Sprache erinnerte eher an ein Hundegebell und war ganz schwer zu verstehen. Ich habe es damals schon nicht verstanden, warum wir zu denen fahren mussten, wo doch Tante Miezi und Onkel Sepp aus Zeltweg viel, viel netter waren. Aber es half nichts, wir mussten uns <em>erholen</em>.
Tante Martha war die Schwester von meinem Vater, und obwohl sie mit Onkel Michel vier Kinder hatten, spürte man kein bisschen Mutterliebe und das vermisste ich sehr.
In Graz angekommen, erwartete uns schon die ganze Verwandtschaft am Bahnsteig. Mein Bruder holte aus seinem Rucksack ein Kuvert und überreichte es Onkel Michl. "Das behalte und gib es Agnes (so hieß meine Mutter) wieder", meinte er. In dem Augenblick wurde ihm der Umschlag aus der Hand gerissen und verschwand in der Tasche von Tante Martha.
Sie war geizig, böse und dazu auch noch hässlich. Ich mochte die ganze Sippe nicht.
Mit dem Bus ging es noch einmal eine Stunde weiter, bis wir endlich ankamen. Es erwartete uns ein dreckiger ungepflegter Bauernhof, der von einem noch hässlicheren Hund bewacht wurde. Zum Glück war diese Bestie angekettet.
Wir teilten uns mit den beiden etwa gleichaltrigen Cousins ein Zimmer.
Mein Bruder wollte sich gerade mit mir das restliche Butterbrot geben, da kam unsere Tante rein, nahm ihm das Brot aus der Hand und meinte, dass es dafür noch zu früh sei. Wir packten also unseren Koffer und Rucksack aus und gingen anschließend in die Stube, wo man uns schon erwartete.
Meine Tante machte uns mit dem "Erholungsprogramm" der nächsten 14 Tage vertraut.
Um sechs Uhr morgens sollten wir gewaschen und angezogen in der Stube zum Frühstück sein, am Sonntag um sieben Uhr. Warmes Wasser gab es nur beim Baden und das auch nur einmal die Woche. Gewaschen wird sich draußen am Brunnen. Falls es mal regnen sollte, dürfen wir die Lavoire in der Diele benutzen. Wir <em>dürfen</em> auch immer mit aufs Feld fahren und Kartoffeln einsammeln. Mittagessen gibt es um zwölf Uhr. Von 14h bis 17.30h dürfen wir wieder mithelfen. Wer lieber auf dem Hof bleiben möchte, was eigentlich von den beiden bestimmt wurde, der kann sich im Stall bei den Schweinen und Kühen nützlich machen. Der Hund ist böse, und wir sollten niemals auf die Idee kommen, ihn zu streicheln oder zu ärgern.
Zum Plumpsklo ging es am Schweinestall entlang, ganz dicht am Hund vorbei. Das Briefing endete mit den Worten:
und wenn ihr nicht folgt (hat dieselbe Bedeutung wie gehorchen), dann gibt's den Pracka (Pracker: Teppichklopfer auf österr.).<strong> Na denn, gute Erholung</strong>.
Nach einigen Tagen hatten wir uns dem Erholungsrhythmus angepasst, abgefunden haben wir uns jedoch nicht.
Auf der Suche nach einem Frustablass-Ventil entschieden wir uns für Harry dem bösen Hund an der dicken Stahlkette Kette.
Die ersten Tage traute ich mich nur in Begleitung zum Klo. Harry kam jedes Mal wütend an mich rangestürmt und wurde zum Glück, immer knapp vor mir von der Kette gestoppt, die ihn fast strangulierte. Wenn Onkel Michl mich begleitete, dann bekam er immer einen kräftigen Tritt verpasst, was ihn aber nicht unbedingt zahmer machte. Wir merkten uns genau den Punkt, wo es für Harry nicht mehr weiterging. Von dem Tag an hatte Harry reichlich Abwechslung.
Bei jeder Gelegenheit rannten wir zur Toilette oder in den Schweinestall. Harry, so erfuhr ich später, war eine Mischung zwischen Rottweiler und Dogge. Nach einigen Tagen war er so von uns angetan, dass er schon mit den Zähnen fletschte, wenn wir nur aus dem Fenster guckten.
An dem Morgen war ich der Letzte und Einzige weit und breit, der noch im Hof stand und sich waschen wollte.
Außer Harry, der kam aber nicht deswegen, um sich zu waschen. Er stand plötzlich neben mir. Ich merkte, wie sich ganz langsam aber unaufhaltsam mein Darmmuskel entspannte. Ich versuchte noch ganz schnell eine Freundschaft mit ihm zu schließen und presste zitternd das Wort Harry durch meine geschlossenen Zähne raus. Es war wenigstens ein Versuch und dabei blieb es auch. Er wollte meine ihm angebotene Freundschaft nicht erwidern. Es musste ein jämmerlich und doch lustiges Bild abgegeben haben. Ich stand also am Brunnen, der aufgrund der bedrohlichen Situation auf das Plätschern vergaß. Meine ursprünglich weiße Unterhose war ihrer eigentlichen Aufgabe nicht mehr gewachsen, und rutschte samt des ungewohnten Inhaltes, Richtung Kniekehle. Ich spürte wie die Exkremente an den Innenseiten der Oberschenkel, vergeblich nach Halt suchten und eine stinkende Spur der Verzweiflung zurückließen. Durch den Abrieb verlangsamte sich die Sinkgeschwindigkeit bis zum endgültigen Stopp mangels Maße. Ich scannte die Lage und wählte den Fluchtpunkt Maisfeld. Harry war noch so nett und gewährte mir fünf Schritte Vorsprung. Meine Duftmarken, die ich unterwegs unfreiwillig gesetzt habe, hinderte ihn nicht daran, das große <a href="http://http://de.wikipedia.org/wiki/Halali_%28Jagd%29" title="http://alois-steiner.editionblaes.de/harry-der-kettenhund" target="_blank">Halali</a> zu blasen. Ich spürte nur noch einen kräftigen Stoß von hinten, der mich zu Boden warf und dass man versuchte, mich mit einer Zange im Rücken, hochzuschleudern.
Auf dem Bauch liegend, wachte ich in der Stube auf. Ein höllisches Brennen durchfuhr intervallmäßig meinen Körper.
Zum einen war es der Basisschmerz, aber nicht genug der Qual, man reinigte die Wunden mit dem doch so guten Sliwowitz. Mein Bruder erzählte mir anschließend, dass Tante Martha den Hund kaum von mir trennen konnte und mit der Kette auf ihn einschlagen musste. Er hing wohl sehr an mir. Jetzt zerrte man Harry mit angelegtem Maulkorb rein.
Die vier Kinder traten schon profilaktisch auf seinem <a href="www.redensarten.net/Canossa.html" title="Mein Buch: Der zweite Sieg" target="_blank">Gang nach Canossa</a> heftig zu, um mir ihre Solidarität zu bekunden. Onkel Michl schlug den Hund vor meinen Augen mit einem Stahlrohr so lange, bis er sich nicht mehr rühren konnte. Sein Rückgrat ähnelte einer Wellblechbude. Sie wollten sich damit ihr Gewissen erleichtern, mir hat es nicht geholfen, und habe es auch nicht verlangt.
Schließlich war ich derjenige, der ihn bis aufs Blut gereizt hatte.
Frisch geflickt und unerholt traten wir irgendwann unsere Heimreise an.

Zehn Jahre später standen wir uns das letzte Mal gegenüber, Harry und ich. Er war mittlerweile blind und humpelte, wahrscheinlich hat ihn <em>meine nette Verwandtschaft</em> nach und nach, zum Krüppel geschlagen. Es trennte uns zum Glück, ein unüberwindbarer Zaun. Es war kein freudiges Wiedersehen.

 

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